Babybett

Die Zeitung zu lesen ist für ihn ein Ritual. Er blättert nicht gedankenlos durch die einzelnen Seiten, sondern nimmt jeden einzelnen Text unter die Lupe. Selbst die Kleinanzeigen im hinteren Teil studiert er oftmals minutiös. Es kann eine Stunde vergehen, bis er mit diesem Ritual fertig ist. Für ihn ist es Ruhe und Entspannung, ein Stück Zurückgezogenheit.

Wieder einmal ist er auf Seite 18 angelangt, bei den Kleinanzeigen. Dort findet sich allerlei Kram, den irgendjemand noch irgendwie an die Frau oder den Mann bringen möchte. Kaufen will er davon eigentlich nie etwas. Es ist die Neugier an den Texten, die ihn dazu veranlasst, die Zeitung nach den lokalen Sportnachrichten nicht einfach beiseite zu legen. Dieses Mal stößt er auf eine Kleinanzeige, die er so noch nie gelesen hat. „Babybett ist auf der Suche nach neuem Besitzer“, lautet die Überschrift. Darunter noch ein paar Details zum Bett selbst und eine Telefonnummer. Der Preis sei Verhandlungssache, heißt es in der Annonce.

Für einen Moment wundert er sich über die Formulierung im Titel. Wie könne denn ein Babybett auf der Suche nach etwas sein, fragt er sich. Aber schon im nächsten Augenblick bemerkt er ein kleines Detail, das er zunächst übersehen hatte. „Wie neu“, steht dort geschrieben. Direkt wandert sein erster Gedanke zur genauen Formulierung. Warum „wie neu“ und nicht „nagelneu“?

Sein Lesefluss ist gebrochen. Er geht das andere halbe Dutzend Kleinanzeigen gar nicht mehr durch. Sein Kopf bleibt bei dieser Kleinanzeige und marschiert geradewegs in die eigene Kindheit zurück. Auch er hat die erste Zeit seines Lebens teilweise in einem kleinen Babybett verbracht. Das war ausgepolstert an den Seiten, weil er sich anfangs immer stieß. Seine Mutter legte ihm auch einen blauen Bären mit roter Brille daneben. Auf seine Art hatte er sich über die Jahre als Brillenträger und Liebhaber von blauen Pullundern in diesen Bären verwandelt.

Er denkt darüber nach, was eigentlich aus seinem Bettchen geworden war. „Wie neu“ sah es in jedem Fall zum Zeitpunkt, als er dem Bettchen entwachsen war, nicht mehr aus. Und in einer Kleinanzeige war es auch nicht gelandet. Seine Gedanken gehen zurück zum Angebot in der Zeitung: Warum würde jemand ein Babybett zum Verkauf anbieten? Daran hingen doch Erinnerungen? Und wer würde eines kaufen, wenn darin bereits ein Baby geschlafen habe? Immerhin seien Babys nicht die reinlichsten Lebewesen. Nochmals schlittert er in die Vergangenheit zurück. Er überlegt, ob seine Mutter je mit ihm über seine Sauberkeit sprach. Doch er weiß es nicht mehr.  

Die Formulierung „wie neu“ macht ihn weiterhin stutzig. Vor seinen Augen spielen sich alle möglichen Szenarien ab. Womöglich war das Kind zu dick und passte nicht rein, aber die Eltern hatten das Bett schon vor der Geburt gekauft. Ein paarmal lag das füllige Neugeborene drin, bevor sie erkennen mussten, dass sie ein größeres benötigten. Vielleicht hatten sie auch versehentlich zwei gekauft. Das würde schon mal vorkommen, wenn die Anweisungen bei der Bestellung fehlerhaft seien, denkt er sich und wird daran erinnert, dass er einst zwei identische Staubsauger geliefert bekam. Eventuell hätten die Eltern beide einmal ausprobiert, sich für das besser angefertigte Bett entschieden und anschließend die Kleinanzeige geschaltet, denkt er sich.

Dann kommt ihm einer seiner ehemaligen Mitarbeiter in den Sinn, der zusammen mit seiner Ehefrau ein ganzes Kinderzimmer dank eines vorgezogenen Weihnachtszuschusses einrichtete. Er bat ihn damals um den Bonus im September, denn das Kind wurde für den November erwartet. Aber die vielen Spielsachen und Einrichtungsgegenstände verstaubten. Was wohl aus ihnen geworden sei, fragt er sich. Er entsinnt sich, dass der Mitarbeiter wenig später seine Kündigung einreichte. Er hatte danach nie wieder etwas von ihm und seiner Ehefrau gehört. Dabei war er immer der vorbildlichste in der Firma.

Seine Augen schweifen noch einmal über den Titel der Kleinanzeige: „Babybett ist auf der Suche nach neuem Besitzer.“ Er bricht mit seinem Ritual und schlägt die Zeitung direkt zu, ohne den Wetterbericht auf der letzten Seite zu lesen. Stattdessen greift er zum Telefon. Er wählt die Nummer seiner schwangeren Tochter.