Hunger

Der Anzug sitzt, der Schritt ist kraftvoll, eine Aura der Bestimmtheit umweht Möllenbeck. Er überquert eine vielbefahrene Hauptstraße, als der Verkehr steht. Diesen Weg kennt er, er geht ihn jeden Morgen und jeden Abend, sechsmal die Woche. Heute ist etwas anders.

Sein durchgedrückter Rücken und aufrechter Gang erlaubt es ihm gar nicht, nach unten zu blicken. Aber im unteren Rand seines linken Auges bemerkt er die Farbe Braun. Zum Braunen gesellt sich ein Ton, der ebenso dunkel ist wie die Farbe. Der Verkehr kommt wieder ins Rollen, Reifen auf Asphalt, Karosserien gegen den Wind. Ein leises „Verzeihen Sie…“ schwingt durch den ungeheuren Lärmpegel. Erst sperren sich seine Ohren dagegen. Aber beim zweiten, ebenso dumpfen und dunklen „Verzeihen Sie“ macht Möllenbeck Halt. Seine wohlgeschusterten Absätze knallen auf dem Fußweg.

Er sieht sie, er bemitleidet sie. Das Braun entpuppt sich als alte Decke, zerrissen und zerschlissen, als könnte sie ihren ursprünglichen Zweck schon lange nicht mehr erfüllen. Sie sitzt auf dem kalten, steinigen Boden und schaut nach oben. Hinter seiner breitschultrigen Gestalt verbirgt sich die Sonne. Ein großer Schatten fällt auf die Frau, die, obwohl er sie bereits gehört zu haben scheint, noch einmal ein „Verzeihen Sie“ nach oben wirft. „Hätten Sie vielleicht ein wenig Geld für eine alte Frau? Ich habe Hunger“, fragt und sagt sie.

Er bleibt regungslos, kein Schnaufen, kein Stöhnen, kein Mitleid. Er greift in die Innentasche seines Sakkos und zieht heraus ein flaches, glänzendes Portemonnaie. Mit einer gekonnten Daumenbewegung öffnet es sich. Das hintere Fach offenbart Geldscheine. Während er hineinblickt, bleibt die ihm Fremde ganz still. Ihre Augen lassen nicht von seinen Händen ab. Er zieht einen Schein heraus. Das Portemonnaie schließt und verstaut er wieder mühelos.

Die Sonne dringt durch den Schein, sie lässt ihn glänzen. Er ist nagelneu, wie erst soeben gedruckt. „Ich könnte Ihnen diesen 100-Euro-Schein geben“, teilt er ihr sachlich mit. Ihre Augen weiten sich, ihr Körper richtet sich auf, als wolle sie unmittelbar zupacken. Doch zwischen ihr und dem Schein ist noch ein gehöriger Abstand. „Aber wissen Sie, was das ist?“, fragt er.

Die Frau hat keine Antwort. Es ist ein 100-Euro-Schein, es sind 100 einzelne Cola-Flasche, 30 Fischbüchsen, 20 Schachteln Zigaretten, zwei große Restaurantmalzeiten, ein Ticket für die Oper. Er zieht den Schein zu sich und mustert ihn. „Eigentlich ist der hier nur so viel wert, wie wir glauben.“ Konfusion zeichnet sich auf dem faltendurchzogenen Gesicht ab. „Unser Geld ist nur eine Illusion. Wer welches hat, ist noch lange nicht reich.“ Sie bricht ihr Schweigen: „Aber Sie haben welches, Sie sind reich.“

„Das bin ich, oder aber nicht“, erwidert er. „Ich verrate Ihnen ein Geheimnis, ich bin nur reich, weil es die anderen glauben. … Wissen Sie, was man für diesen Schein bekommt?“ Die Frau überlegt für einen Moment, ihre ohnehin schon faltige Stirn wirkt noch zerknautschter. „Ich, ich würd‘ mir ein paar saftige Steaks holen, und ‘ne Schachtel Kippen, natürlich“, sagt sie mit einem kecken Lachen im Nachhall.

Möllenbeck bleibt auf Linie: „Warum verkauft Ihnen der Mann an der Ecke die Zigaretten?“ Sie weiß es nicht. „Weil der halt Kippen verkauft.“ „Weil er glaubt, er kann mit dem, was Sie ihm geben, wieder etwas anderes erwerben.“ Die Frau am Boden starrt wieder auf den mittlerweile zusammengefalteten Schein, als er durch die Hände tänzelt. „Was wollen Sie mir eigentlich sagen?“, fragt sie. „Dass das hier nichts ist, wenn wir aufhören daran zu glauben, dass das hier etwas wäre“, ruft Möllenbeck. Ihn packt die Leidenschaft: „Wir werden davon beherrscht, wir träumen davon. Es belebt uns und zerstört uns. Es hebt uns in den Himmel und drückt uns auf den Boden.“

Möllenbeck zeigt auf den Schein: „Wir müssen nur anfangen den Wert von dem hier zu verneinen.“ Er schnauft kurz durch. „Wollen Sie den hier wirklich haben? Wollen Sie ein Sklave sein?“ Die Frau schaut beeindruckt, ihr Körper kommt allmählich in eine gerade Haltung. Sie stützt sich auf, ihre Gelenke knacken, die braune Decke hängt an den Schultern. Sie kommt dem Schein näher, fixiert ihn mit ihren Augen.

Und sie packt zu. „Ich habe Hunger.“