Gegensätze
Unter Anziehungskraft verstehen Physiker die gegenseitige Annäherung von Massen. Sie nimmt mit zunehmender Entfernung der Massen ab, besitzt aber unbegrenzte Reichweite.
Im Leben und in der Liebe bleibt oftmals unerschlossen, was genau diese Anziehungskraft ausmacht. Sind es die Gegensätze oder die Gemeinsamkeiten? Oder eine Mischung aus beidem? Sind es die richtigen Umstände oder die passenden Zufälle? Wer weiß das schon so ganz genau.
Kumar stammt aus einer dörflichen Weberfamilie im östlichen Indien. Ausgestattet ohne materiellen Reichtum, aber mit einer Gabe für die Malerei durchläuft der lebensfrohe Künstler die für jemanden wie ihn nicht unbedingt vorgesehenen Bildungsetappen – bis hin zur angesehenen Hochschule Visva-Bharati, nur um zu realisieren, dass er die Studiengebühren niemals aufbringen könnte. Frustriert, aber nicht entmutigt, kehrt Kumar in sein Heimatdorf zurück, um wenig später einen neuen Anlauf zu starten.
Durchhaltevermögen und seine Begabung führen ihn schließlich an das College of Art in Delhi, wo er seiner Berufung nachgeht. Kumar wird über Nacht zu einem berühmten Portraitzeichner, nachdem seine Abbildung von Indira Ghandi um die Welt geht.
Charlotte stammt aus einer Abzweigung des schwedischen Adels. Sie genießt seit Kindesbeinen eine vorzügliche Bildung, fernab der alltäglichen Schwierigkeiten ihrer Landsleute. Statt auf eine schwedische Hochschule zu gehen, besucht sie die angesehensten Einrichtungen im englischen London. Geld spielt für ihre Familie keine Rolle. Ihr stehen alle Türen offen. Doch was, wenn einem das nicht genügt?
Vielleicht sind es nur die normalen Flausen einer 19-Jährigen, denkt sich Charlottes Vater, als diese ihm eines Tages offenbart, dass sie während der Sommerferien nach Indien reisen möchte. Sie habe von einem Portraitmaler namens Kumar gelesen, der Indira Ghandis einzigartiges Charisma mit dem Pinsel einfing. Zu allem Überfluss will Charlotte diesen ungewöhnlichen Ausflug in einem alten Familien-Van unternehmen. „Was könnte schon schiefgehen, wenn ein junges Mädchen durch diese Barbaren-Regionen reist?“, fragt Charlottes Vater entsetzt – wohlwissend, dass er keine wirkliche Handhabe gegen die Unternehmung seiner Tochter hat. Was sollte er auch tun? Ihr den Studienplatz in London wegnehmen und sie noch mehr von sich wegstoßen?
Charlottes Reise dauert 22 Tage, verläuft aber reibungsloser, als sogar sie selbst vorher annimmt. Von alle dem bekommt Kumar nichts mit. Der eigentlich Unberührbare steht in der Gunst der strengen Behörden. In den 22 Tagen, an denen Charlotte durch die Wüste fährt, in entlegenen Dörfern schläft oder mit Reifenpannen kämpft, sitzt Kumar stoisch am Heiligen Brunnen in Connaught, dem angesehenen Finanzviertel von Delhi. Die Erlaubnis, dass sich jemand wie er dort niederlassen darf, kommt einer kleinen Revolution gleich.
Am 23. Tag ist Kumar gerade dabei, sein Arbeitsgerät – Pinsel und Leinwand – unter den Arm zu klemmen und in sein kleines Studenten-Apartment zurückzukehren. Ein wenig produktiver Tag liegt hinter ihm. Kein Portrait vermag dem Begabten heute zu gelingen. Da tritt plötzlich ein Schatten über ihn – die grelle Sonne, die wie immer mit ganzer Kraft auf Delhi scheint, verdeckend. An der Silhouette erkennt Kumar eine zierliche Gestalt mit langen Haaren – mehr aber auch nicht.
„Bist du es?“, fragt ihn eine Stimme in einem englischen Akzent, der so gar nicht an diesen Ort gehört. „Wer soll ich sein?“, entgegnet Kumar. „Ich suche den Zeichner, der portraitiert.“ Da wird Kumar bewusst, dass seine Prominenz schon über die Landesgrenzen Indiens hinaus reicht.
„Ich bin Charlotte. Aus Schweden. Das liegt in Europa“, fährt die dunkle Silhouette fort. Kumar verschlägt es die Sprache. Ein großer Redner ist er sowieso nicht. Er lässt vielmehr seinen Pinsel für sich sprechen. „Das ist schön. Wie kann ich helfen?“, bringt er stotternd hervor. „Ich möchte, dass du mich zeichnest.“ „Ich bin gerade auf dem Weg nach Hause. Komm doch morgen wieder.“
Kumar, etwas verängstigt ob der forschen Art dieser Europäerin, macht eine Kehrtwende und verlässt den Park eiligen Schrittes. Er könnte noch Stunden dort verweilen, denn dringliche Termine stehen nicht an. Aber in diesem Moment bevorzugt er lieber die Einsamkeit seines Apartments. In der Nacht schafft er es allenfalls in den Halbschlaf. Seine Gedanken kreisen sich ständig um diese so ungewöhnliche Begegnung.
Nicht einmal Indira Ghandi hatte seinen Herzschlag derart in die Höhe getrieben. Aber Ghandi ist eben eine Inderin, wenn auch aus einer Schicht weit über jener des Webersohnes Kumar. Er weiß nicht einmal, wie diese Europäerin überhaupt aussieht. Sein Geist ist im Bann einer dunklen Silhouette.
Am 24. Tag sitzt Kumar früher als sonst am Rande des Heiligen Brunnens. Sein Nacken fängt ein paar Wasserspritzer. Der Park ist noch leer. Aber Kumar scheint abwesend. Er wartet, negiert die Anwesenheit der langsam hereinströmenden Besucher. Er zückt weder seinen Pinsel, noch macht er Anstalten jemanden zu sich zu holen, um denjenigen zu portraitieren. Bis Charlotte erscheint.
Zum ersten Mal sieht Kumar die junge Frau, ohne Schatten. Sie wirkt mit ihren blonden Haaren und der hellen Haut wie ein Fremdkörper unter all seinen Landsleuten. Die hellhäutigen Briten treiben schon lange nicht mehr ihr Unwesen in Delhi. Es ist aber nicht Kumars erste Begegnung mit einer Westlerin. Nur eine solch schöne ist ihm noch nie über den Weg gelaufen, denkt er sich.
Charlotte geht graden Schrittes auf Kumar zu. „Da bist du wieder. Habe ich dich gestern verjagt?“, fragt sie forsch. „Nein. Ich … hatte anderweitige Verpflichtungen.“ „So, so. Dann bin ich stolz, dass du heute Zeit für mich hast.“ „Habe ich das?“ „So sieht es doch aus.“ „Ja, ganz recht.“
Charlotte lässt sich im Schneidersitz auf dem Rasen nieder. Dass ihr weißes Kleid, das mehr wert ist als das Jahresgehalt eines durchschnittlichen indischen Schneiders, ein paar Schmutzflecken auffangen würde, ist ihr egal. „Wenn ich jemanden portraitiere, halte ich es einfach“, erklärt Kumar. „Ich verziere nichts. Einfachheit ist alles.“
„Verstehe“, erwidert Charlotte und legt nach: „Bist du einfach?“ Kumar schaut verdutzt. „Ich glaube nicht. Aber ich wage nicht, über mich selbst zu urteilen.“ Und nach kurzem Zögern: „Ich komme aus einfachen Verhältnissen, musst du wissen.“ „Und da lassen sie dich hier in diesem Park einfach so zeichnen?“ fragt Charlotte. „Es ist eine Ausnahme“, sagt Kumar.
Über die nächsten Stunden gestaltet sich die Konversation der beiden recht einseitig. Kumar klammert sich fest an seinen Pinsel. Die Hand des begabten Künstlers fegt nicht mit der gewohnten Leichtigkeit über den Malgrund. Er scheint sich zu verstecken, während Charlotte ihn mit Fragen löchert.
Als Kumar fertig ist, schaut er mit einiger Enttäuschung auf das Portrait. Postwendend entschuldigt er sich für seine Arbeit. Charlotte hingegen ist überwältigt ob der Simplizität. Sie fühlt sich geschmeichelt. Kumar hingegen beklagt, er könne ihre Schönheit niemals vollends einfangen. „Warum denkst du so?“, fragt Charlotte. Kumar zögert. „Ich kann meine Gefühle nicht verdrängen.“
Charlotte lächelt, aber nicht wie sonst in ihrer lebensfrohen Natur. Es ist ein anderes Lächeln. In ihrem Kopf führt sie ein Selbstgespräch. In ihrer Heimat, an ihrer Universität erlebt sie all die Eingebildeten, Hochnäsigen, Komplizierten. Und dieser Maler zieht sie wie magisch an. Sie kann sich nicht mehr von Kumar lösen, obwohl doch beide und ihre Lebenswege, ihre Hintergründe so verschieden sein.
Charlotte entschließt, länger als geplant in Indien zu bleiben. Die blonde Frau und der unberührbare Zeichner werden zu einer Attraktion, aber auch zu einem Politikum am Heiligen Brunnen. Die Gegensätze seien doch so groß, beschweren sich die konservativen Einheimischen. „Was stimmt mit dieser Europäerin nicht?“, fragt ein Wachoffizier lauthals eines Tages und möchte die beiden voneinander trennen, bevor sie geschwind die Flucht ergreifen. „Lass sie“, sagt sein Kollege. „Dagegen können wir nichts unternehmen.“
Wie geht die Geschichte weiter? Aus dem Entschluss ein paar Tage länger in Indien zu bleiben werden schließlich Wochen und Monate. Charlotte und Kumar heiraten nach traditionellen indischen Riten. Als die Zeit kommt, dass Charlotte nach London zurückkehren muss, um im Herbst-Trimester ihr Studium fortzusetzen, werden beide voneinander getrennt. Sie bleiben über Briefwechsel in Kontakt. Nahezu wöchentlich schreiben sich die beiden ihre romantischen Gefühle von der Seele. Die Frischvermählten kämpfen mit der großen geographischen Distanz, die zwischen ihnen liegt.
Charlotte bietet Kumar an, ihm das Flugticket nach London zu bezahlen, was der stolze Ehemann ablehnt. Er möchte sein eigenes Studium beenden und aus eigener Kraft zu ihr kommen. Er verspricht ihr, alles zu tun, um sie wiederzusehen. Nach dem Ende seiner Malerausbildung verkauft Kumar alle seine Besitztümer. Doch das damit erhaltene Geld genügt bei weitem nicht für den langen Flug nach Großbritannien.
Alles, was er sich damit leisten kann, ist ein altes billiges Fahrrad. Die meisten geben auf, doch Kumar hält sein Versprechen. Er erinnert sich daran, dass Charlotte einen beschwerlichen Weg auf sich nahm und tut selbiges. Nur statt eines Vans eben auf einem Drahtesel. Kumar verstaut seine Pinsel und Gemälde und reist mit dem Fahrrad über vier Monate durch acht Länder. Auf dem Weg schlägt er sich mit der Malerei durch, bevor er in Charlottes schwedischer Heimat ankommt und für immer mit ihr dort verweilt.