Scherbenhaufen
Postboten führen ein abgeschiedenes Leben. Sie treiben ihr Unwesen auf dunklen Straßen, wenn der Rest der Welt schläft. Und wer nicht schläft, der ist nicht bei Sinnen. Der Postbote ist allenfalls eine Silhouette in dessen vom Alkohol geröteten Augen. In vollster Anonymität sind so manche Sorgen unvorstellbar.
Und wie von Geisterhand liegt morgens die Zeitung, eingebettet in all dem Kram, der in Briefumschläge passt, vor der Tür. Der Bote war schon längst verschwunden, da wurde die Zeitung erst geöffnet – und schlug ein in einen Wall an Kaffeegeruch und Rasierwasserbriese. „Schundblatt“, sagte er. Ein Codewort. Es fiel nur, wenn wieder einmal der eigene Name drinsteht. Und so zirkulierten sie, ein Pärchen in ihren Dreißigern – die guten Dreißiger – um einen Küchentisch, um eine Zeitung, um die gedruckten Zeilen, um die Bedeutung dieser Zeilen. „Lügner“, fuhr es aus ihm. „Ich hole Brötchen“, fuhr es aus ihr.
Es war keine zustimmende Nichtigkeit, sondern die Flucht ins Freie. Sie wusste, wenn ihr Freund, oder Partner, wie die etwas altbackenen Schwätzerinnen sagen würden, wieder einmal einen hervorragend-schrecklichen Tag verleben würde. Da nützte allzu viel Zureden nicht. Das wusste sie. Dafür kannten sie sich schon zu lange. Dafür ist sie in ihre Rolle, als vornehmlich schweigende Konfidentin, hineingewachsen.
„Die Machtverhältnisse“, wie eine der Schwätzerinnen mal abschätzig daher schwätzte, „sind schnell geklärt.“ Als wäre Liebe ein Stellungskrieg und die Ehe der Waffenstillstand. Verheiratet waren sie aber nicht. Er hatte nie gefragt und sie wollte um Himmelswillen nicht fragen. Das hätte doch nur die verflixten Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt. Und wer weiß, wie er darauf reagieren würde. Vielleicht wie auf eine schlechte Nachricht in der Zeitung.
Mit Berühmtheit kamen die Schattenseiten, sagte sie sich oft. Und dass die Großstadt Anonymität bieten würde, ist ein Trugschluss. Ebenso, dass ein reicher Unternehmersohn nicht nur das große Geld, sondern auch die Manieren des eigenen Vaters erben würde. Davon war nichts zu spüren. Doch irgendwie fanden sie eines Tages zusammen. Keine romantische Geschichte, die sie solange auf Zusammenkünften der Society erzählen könnten, bis es auch dem letzten Kellner zu viel des Geschwafels wäre. Nein, wenn es Machtverhältnisse gibt, dann auch Stillschweigen.
Stillschweigen zumindest über die Vergangenheit, aber keineswegs im Hier und Jetzt. Viel zu oft wurde viel zu lautstark gestritten. Die Auslöser? Irrelevanz. Schlichtweg zwei Gemüter, die aufeinander prallten, die sich manches Mal nicht ausstehen konnten, aber doch brauchten. Er mochte ihre vermeintliche Naivität; verliebte sich in ihr Lachen, dem eines Kindes nicht unähnlich. Und nicht selten dachte er über sie wie über ein Kind. Wie ein Adoptivkind, das plötzlich eines Tages ein fester Teil seines Lebens wurde und die Leere füllte, die Anerkennung niemals hätte füllen können. Es war auch nicht Sex und anderweitige Zuneigung. Die hatte er sich schon zuvor regelmäßig verschaffen können – und glaubte man dem allgegenwärtigen Tratsch, all den Gerüchten, die nicht einmal in den verhassten Zeitungsspalten auftauchen, so war er keineswegs von Wildfremden abgeneigt. Sie nahm es mit einer ungewöhnlichen Gleichgültigkeit hin.
Die beiden waren wie ein Schwarz-Weiß-Film. Supplementär. Und doch so verschieden. Sie wollte ihn glücklich machen und er nahm keine Notiz. Er feierte sich und sie zuckte mit den Schultern. Etwas Altmodisches und doch Tragisches umgab schon die Atmosphäre im gemeinsamen Apartment. Alles penibel gepflegt, dabei ohne Inspiration. Als müsse alles einen Platz haben und keiner könnte genau erklären, warum eine zerbrechliche Vase ausgerechnet auf einem kleinen Stehtisch an der Eingangstür steht. Keiner könnte genau erklären, warum die Vase so grässlich aussieht.
Er dachte oftmals leise und manchmal laut, sie habe keinen sonderlich guten Geschmack. Sie wuchs nicht im Großstädtischen auf, dachte er sich. Er hatte eine gewöhnlich-arrogante Vorstellung, wie es außerhalb dieser Ansammlung an Hochhäusern und Straßenlaternen zuginge. Und er machte daraus keinen Hehl. Sie nahm es mit Gleichgültigkeit hin. Er hatte keine Ahnung.
Bergab ging es erst, als beide begannen, gemeinsame Abende außerhalb des peniblen Arrangements zu verbringen. Die Einladungen waren an ihn adressiert.
Große runde Tische mit großen runden Tellern und großen runden Gesichtern, die an diesen Tischen aßen. An einem Spätsommerabend war wieder eine dieser Zusammenkünfte der Society. Gründe gab es genügend und doch waren sie vollkommen egal. Beide wurden weit voneinander platziert, als würde ein Ozean zwischen ihnen liegen. Er vertiefte sich in Gespräche mit älteren Männern, die wichtig erschienen – ihren Stirnfalten nach zu urteilen. Sie begnügte sich mit den runden Gesichtern, die weniger wichtig waren und hinter deren Gesichtern sich wenig Erhellendes zu verbergen schien.
„Wie war es, auf dem Land aufzuwachsen?“, wurde sie gefragt. So wirklich erinnern konnte sie sich allerdings nicht. Es war ein Postkartenmotiv, das von ihrer Jugend zurückblieb. Ein schöner Anblick, aber keine Tiefe. „Keine Möglichkeit, etwas aus sich zu machen“, erwiderte sie. „Und das ist ihnen jetzt bestimmt gelungen?“ Sie blieb still, das erschien ihr angebracht.
Auf dem Nachhauseweg wurden wenige Worte gewechselt. Zuhause angekommen hatten beide lustlosen Sex. Dieses Ritual wiederholte sich nun Wochenende für Wochenende. Sie langweilte sich an vollen Dinner-Tischen und wusste nicht so recht, welcher Auftritt von ihr erwartet wurde. Manches Mal konnte sie sich mit belanglosen Gesprächen über Wasser halten, ansonsten war sie wie ein Objekt im Naturkundemuseum. Ein Geschöpf aus einer anderen Welt. Gelegentlich schaute er zu ihr rüber, sie verdrehte die Augen – ein ungewöhnlich deutlicher Hilfeschrei. Er lächelte. Sie nahm es mit Gleichgültigkeit hin. Zuhause angekommen hatten beide lustlosen Sex.
Normalerweise ging sie in einen recht schäbigen Haarsalon. Dem, mit den geschwätzigen Damen, die ihre Ehemänner hassten und über ihre eigenen Haare fluchten. Schnipp-Schnapp das war nicht mehr gut genug, und er schickte sie an eine bessere Adresse. In dem aufpolierten Salon mit glitzernden Champagne-Gläsern saßen geschwätzige Damen, die ihre Ehemänner hassten und über ihre eigenen Haare fluchten. Nur trugen die Damen echte Juwelen und redeten prätentiöser, wenn sie doch auch nur tratschten.
Nachdem ihre Frisur mit einem Gemisch aus wissenschaftlicher Akkuratesse und künstlerischer Inspiration begutachtet und bearbeitet wurde, verließ sie den Salon, ohne zu wissen, was das eigentlich war, das über ihren Augenbrauen. Aber mehr als ein paar abfällige Augenroller würde sie sich beim nächsten Dinner schon nicht einfangen, beruhigte sie sich. Doch ganz im Gegenteil, sie erhielt Komplimente bei nächster Gelegenheit. „Hervorragend“, hallte es an den runden Tischen mit den runden Gesichtern. Eine Sitznachbarin fragte, wie es denn so sei, außerhalb der Stadt aufzuwachsen. „Wie kommen sie darauf?“ – „Ich habe ein Gespür dafür.“ – „Das ist aber auch das Einzige, für das sie ein Gespür besitzen.“ – „Warum so schnippisch?“ – „Warum nicht?“ – „Ich wusste doch, dass sie nicht hier her gehören.“ Sie nahm es mit Gleichgültigkeit hin.
Sie hatte gelernt, Kontrolle zu wahren – Kontrolle bis hin zur Selbstaufgabe. Vielleicht war es wirklich ihre Herkunft, die Schulzeit in alten Häusern, die nur auf Postkarten romantisch wirkten, aber in der Realität die eigene Widerstandsfähigkeit entzogen. Aber nur fast.
„Beim nächsten Mal möchte ich lieber an deiner Seite sitzen“, warf sie ihm recht beiläufig später vor die Füße. Er reagierte nicht, aber er tat es, regungslos. Und trotzdem war eine Unbehaglichkeit zu vernehmen. Vielleicht könne er nun nicht so offen sprechen. Aber bei nächster Gelegenheit tat er es einfach und sie wurde zum Gesprächsthema. „Und wie hast du sie kennengelernt“, fragte einer, als wäre sie nur eine Puppe. Sie studierte sehr genau die Falten der Tischdecke, die Anordnung der Kronleuchter, die Silhouetten an den Fenstern. „Das weiß ich gar nicht mehr“, erwiderte er und wechselte nahtlos das Thema – zurück zum Geschäftlichen. Im Taxi nach Hause herrschte Stille. „Du kannst dich wirklich nicht erinnern.“ Er wirkte ertappt. Zuhause angekommen schloss er sich ins Schlafzimmer ein.
Der Sommer war nun lange vorüber und die Straßen erfuhren eine bedrohliche Glätte. Bedrohlich für die glatten Sohlen von Smoking-Schuhen. Die Dinner wurden weniger, die Abende auf der heimischen Couch länger. Viel zu sagen gab es nicht. Er schimpfte über dieses und jenes, was ihm am Tag passiert war. Über diesen und jenen, der ihn angeblich aufs Kreuz legen wollte. Über die Aasgeier hier und die Schmierfinken dort.
Sie widersprach nie, pflichtete ihm leise bei, wohlwissend, dass er sein Temperament allenfalls sporadisch unter Kontrolle hat und sowieso alles und jeden verantwortlich macht. Dabei ging es beiden gut, selbst schlechte Zeiten meinten es noch gut mit ihnen. Auch deshalb hielt sie still.
Und doch machte er auch sie gerne verantwortlich. Ein Sündenbock in den eigenen vier Wänden. Sie hörte ihm beim Schwadronieren zu und sagte immer häufiger: „Du bist anstrengend.“
Sie spaltete sich: die eine Seite wurde immer zorniger, die andere immer gleichgültiger. Sie wusste um seine Ignoranz, wenn er sich nicht einmal daran erinnerte, wie sich die beiden kennengelernt hatten. Eines Tages siegte in diesem innerlichen Duell das Zornige. Aber es brach sich nicht etwa wortgewaltig Bann.
Als er wieder einmal über Gott und dessen Schuhputzer schimpfte und grundlos in den Raum warf „Du hast einfach kein Verständnis.“, legte sich ein Schalter um. Das Tiefblaue in ihren Augen wurde weiß, das Rosafarbene in ihren Wangen rot, der Restschimmer an Zurückhaltung tiefschwarz. Erst bemerkte er nicht, was er angerichtet hatte, aber als es ihm langsam dämmerte, dämmerte es ihm gewaltig.
So großspurig er auch gerne in der Sicherheit des eigenen Zuhauses wirkte, konnte er doch ein überraschend großer Hasenfuß sein. Er ging in den darauffolgenden Wochen jedem Konflikt, gar zumeist jedem Augenkontakt aus dem Weg. Seine Arbeitstage wurden länger, seine wichtigen Arbeitstreffen an den Wochenenden regelmäßiger. Ob er sich mit anderen Frauen traf und aus Furcht in irgendeinem Etablissement verkehrte, war nun auch nicht mehr wichtig. Der Alkoholgeruch, den er nun immer häufiger spazieren trug, konnte auf beides hindeuten. Eine Brise Selbstmitleid blieb in jedem Fall nicht unbemerkt.
Und in diesem Gemisch wandelte sich nichts zum Positiven. Das letzte Geradlinige im Gang verschwand, die Schultern hängend. Eines Abends, es herrschte heftiges Schneetreiben außerhalb, torkelte er wieder wie ein Seemann auf Landgang herein und unternahm mehrere Pirouetten, als wäre er der ungelenke Bruder eines professionellen Eiskunstläufers. Nach der dritten Drehung half auch kein Zugriff zum kleinen Tisch an der Türe mehr. Dieser gab nach, er ging zu Boden und mit ihm die grässliche Vase.
Erstaunlicherweise hatte er ihrem Unbehagen zum Trotz den Stellungskrieg gewonnen. Mit schierer Ignoranz. Ihre einstige Gleichgültigkeit mündete in Zorn mündete in Grenz-Rationalität. Und er hatte keinen blassen Schimmer, traute sich aber auch nicht zu fragen. Nicht einmal als sie Tage damit verbrachte, die angesehensten Filigranhandwerker aufzusuchen, mit einem traurigen Sack voll Vasenscherben in der Hand. „Da können sie nichts mehr machen“, hallte es ihr entgegen. Gerne mit dem Nachsatz: „Wirklich schön war das Stück aber nicht. Vielleicht kaufen sie einfach eine neue. Kostet doch nix.“
Eines Abends brach es aus ihr heraus. Die Scherben waren auf dem Wohnteppich verstreut, der einem Minenfeld glich. Sie wartete und wartete und wartete. Wieder ein längerer Arbeitstag – bis tief nach Mitternacht. Als er wieder seine Pirouettenübungen vollführte, nur dieses Mal mit Publikum. Publikum, das nur darauf wartete, wie er in einen Scherbenhaufen schlenderte.
„Oh Gott“, schrie er auf und ließ sich auf die Couch fallen. „Was zum … warum liegen diese verdammten Scherbe hier? Das ist doch diese grässliche Vase. Was fällt dir ein?“ – Sie: „Du kannst dich wirklich nicht erinnern.“ Die Vase war einst ein Geschenk von ihm an sie – ihre erste Verabredung. Die langweilige Geschichte, die keiner hören möchte. Als sie fertig war und sich umdrehte: er war eingeschlafen.
Vor der Tür ein lautes Schneestapfen. Es war der Postbote.